Das Ritualbad der jüdischen Gemeinde Rotenburgs -

landesweites Modell des Rotenburger Rabbiners Levita

In der Brauhausstraße 2 (Gebäude in Bildmitte) befand sich das bis Ende der 30er Jahre von den jüdischen Frauen Rotenburgs benutzte rituelle Tauchbad

„Und will rein Wasser über Euch sprengen, dass ihr rein werdet. Von aller eurer Unreinigkeit und von allen euren Götzen will ich euch reinigen.“
Das jüdische rituelle Tauchbad, gründend auf das Wort des Propheten Ezekiel (Kap. 36, Vers 25), steht also nicht als ein Beispiel für fremdartiges Gebaren, sondern als symbolischer Nachvollzug eines Prophetenwortes, dem auch die christliche Religion verbunden ist.
Die Koppelung mit den Reinheitsgeboten der Thora macht den Charakter des jüdischen Ritualbades, der „Mikwe“, deutlich: Es geht hier nicht um einen Akt der körperlichen Reinigung. „Der Appell der Mikwe(h) richtet sich an das Herz und das geistige Gemüt.“ So formuliert es der Landesrabbiner Dr. Henry G. Brandt in seinem Vorwort zu der entsprechenden Veröffentlichung von Thea Altaras (Das jüdische Rituelle Tauchbad, 1994 als zweiter Teil ihrer Arbeit über die Synagogen in Hessen). Die „rituelle Aufhebung der Unreinheit war ein Mittel, durch völlige Hingabe an Gott das Leben sittlich vollkommen zu machen“. (Altaras, S.5)

Skizze einer Mikwe aus dem 1. Jahrh. (links) und eines christlichen Taufbeckens aus dem 6. Jahrh. n. Chr.

Erst mit der rechtlichen Gleichstellung im Verlauf des vergangenen Jahrhunderts konnten die Juden in Deutschland daran denken, den religiösen Vorschriften zur Benutzung des Tauchbades uneingeschränkt nachzukommen. Es gehörte zu den Elementen, die sich über die Jahrhunderte hin als Teil des offenbarten Gotteswillens lebendig gehalten hatten, auch wenn sie zwischenzeitlich in ihrer Lebensumwelt nicht bzw. nicht konsequent umgesetzt werden konnten.
Die religionsgesetzlichen Bestimmungen erlauben eine Reihe von Varianten bei der Anlage eines rituellen Tauchbades, einer Mikwe.
Abweichungen ergeben sich in erster Linie durch die jeweils verwendete Art des „lebendigen Wassers“. Drei Wasserarten durften benutzt werden: unmittelbar vorhandenes Grund- bzw. Quellwasser, anfallendes Regenwasser und Wasser von nahen Flüssen oder Bächen.
Wenngleich das rituelle Tauchbad seine Begründung nicht in körperlicher Reinigung hat, so ist dieser Aspekt doch auch nicht von den Grundnormen der rituellen Unreinheit zu trennen, die in erster Linie die Frau während der Menstruation meint. Den Frauen bleibt das rituelle Tauchbad vorbehalten, wenn man von der rituellen Reinigung neuer Glas- oder Metallgegenstände für die Nahrungsaufnahme sowie der gelegentlichen Inanspruchnahme durch Menschen mit „anormaler“ Sekretion absieht. Unabhängig von dieser Zweckbestimmung unterzogen sich auch fromme jüdische Männer dem rituellen Tauchbad, vor allem zur Reinigung der Seele vor hohen Feiertagen. Auch in die jüdische Religionsgemeinschaft neu Aufgenommene hatten ein rituelles Tauchbad zu nehmen.
Der wesentliche Charakter des Ritualbades als Frauenbad erklärt sich durch die untergeordnete Rolle der Frau im Judentum und den daraus sich ergebenden Beschränkungen in ihren religiösen Pflichten auf drei Gebote: das Anzünden der Kerzen vor dem Sabbat und vor Feiertagen, sodann das Verbrennen eines kleinen Stückchens Teig beim Brotbacken, vor allem aber das Befolgen der Reinigungsvorschriften, ohne die ein rituelles Untertauchen nicht gestattet war. Dies war zugleich aber auch Vorbedingung für eine sexuelle Verbindung mit dem Mann.
Das Tauchbecken muss groß genug sein, um einen durchschnittlichen Menschenkörper aufzunehmen. Dafür wird eine Mindesthöhe von 1,20 m angenommen, die bei Herabbeugen des Körpers dessen vollständiges Untertauchen ermöglicht. Das für das Ritualbad benutzte Wasser darf nicht mit einem Gefäß geschöpft sein oder durch irgendeine andere Art durch Menschenhand in das Tauchbecken gelangt sein.
Die Lage des Rotenburger Bades unmittelbar neben der Fulda stellte kein Problem für die Besorgung des fließenden Wassers dar. Man kann eher davon ausgehen, dass die Wahl des Standplatzes aufgrund der Nähe zur Fulda erfolgte. Es bedurfte lediglich des Baus eines kurzen unterirdischen Kanals zur Fulda bzw. der Verlegung eines entsprechenden Rohres, um den ununterbrochenen Zufluss des benötigten „reinen“ Wassers zu ermöglichen. Bei geringerer Höhe des Flussbettes konnte - gemäß den diesbezüglichen Vorschriften - auf „fallendes“ Wasser, d.h. angesammeltes Regen- bzw. Schneewasser, zurückgegriffen werden.
Dem vorhandenen „reinen“ Wasser durfte erwärmtes Wasser zugegossen werden, für dessen Aufbereitung offene Feuerstellen ebenso wie geschlossene benutzt wurden. Das warme Wasser brauchte man außerdem für ein zusätzliches Wannenbad als Reinigungsbad, das vor dem Eintauchen in das Ritualbad genommen werden musste.
Den vorgeschriebenen Ablauf (warmes Reinigungsbad vor dem rituellen Tauchbad), wenn auch nicht in der gleichen räumlichen Dimension, zeigt die Arbeit „Jüdisches Ceremoniell“ des Nürnberger Kupferstechers T.C. Kirchner aus dem Jahre 1726.


„Jüdisches Ceremoniell“ nach Kirchner, zu „lesen“ von rechts nach links (Altaras, S.17)

Vor dem Bau spezieller Ritualbäder konnten die Juden ihren entsprechenden Verpflichtungen durch Einrichtungen im je eigenen Wohnhaus nachkommen, was für die Masse der Landjuden aber eher die Ausnahme darstellte. Um die religiösen Auflagen zu erfüllen, hatte es andererseits genügt, bestehende natürliche Ansammlungen von Wasser oder auch Quellen für das regelmäßige Ritualbad zu benutzen.
Mit der im 19. Jahrhundert wachsenden Gesundheitsvorsorge und steigendem Hygienebewußtsein gerieten auch die bis dahin existierenden Ritualbäder ins Blickfeld der zuständigen Behörden. „In der Tat konnte bis Anfang des 19. Jahrhunderts die Benutzung des rituellen Tauchbades die Gesundheit gefährden. Entweder war ihr Aufbau eine leichte Holzkonstruktion, die wind- und sichtdurchlässig war, oder sie lag in dunklen, unbelüfteten und feuchten Kellern. Hinzu kam, dass diese Anlagen selten beheizt wurden.“ (Altaras, S. 10)
Ein solches gesundheitsgefährdendes Bad hatte es auch in Rotenburg gegeben, wie die Akte über „Die Einrichtung von Bädern in der israelitischen Gemeinde Rotenburg“, die im Staatsarchiv Marburg aufbewahrt ist, ausweist (Bestand 180, Nr. 1472). Für den 3. Mai 1825 hatten die Gemeindeältesten Peritz Ballin und Mentel Grünbaum eine Vorladung vom Kurfürstlichen Kreisamt erhalten. „Sie sehen die Notwendigkeit der Anlegung eines warmen Bades sehr wohl ein“, notierte Kreisrat Rembe, zumal „die israelitischen Weiber bei der Einrichtung, wie sie bisher bestand, ihre Gesundheit eingbüßt hätten. Es sei aber mit zu großen Schwierigkeiten verbunden, die dazu erforderlichen Kosten aufzubringen.“ Wenn jedoch die Behörde einen entsprechenden Kredit beschaffen könne, ließen die beiden vernehmen, dann stehe dem Projekt eines neuen Frauenbades nichts im Wege. Wo sich das alte Judenbad in Rotenburg befand, lässt sich aus den überlieferten Akten nicht ermitteln.
Während in den benachbarten jüdischen Gemeinden in Baumbach, Heinebach, Nentershausen, Iba und Bebra das Ritualbad in das Synagogen- bzw. Schulgebäude integriert wurde, suchten sich die Rotenburger Juden für ihr neues Bad einen separaten Standort. Sie fanden ihn in optimaler Lage, unmittelbar an der Fulda, auf einem Grundstück von 49 qm Größe in der Brauhausstraße.

In Baumbach wurde das ehemalige rituelle Frauenbad der jüdischen Gemeinde, unmittelbar neben dem Gebäude der ehemaligen jüdischen Schule und Synagoge gelegen, inzwischen zur Garage umfunktioniert.

War es diese für die Anlage eines Ritualbades besonders geeignete Lage oder aber die für die Errichtung von Ritualbädern vorhandene Sachkenntnis des damaligen Rotenburger Rabbiners Levita? Jedenfalls wurde dieser 1829 vom israelitischen Provinzial-Vorsteheramt in Kassel beauftragt, einen Musterentwurf mit Detailzeichnung für die Anlage von Ritualbädern in den verschiedenen Synagogengemeinden des Kurfürstentums anzufertigen. Dieser Entwurf findet sich dann auch im Staatsarchiv Marburg in der Akte über „Die Einrichtung von Bädern in der israelitischen Gemeinde Rotenburg (Bestand 180, Nr.1472).
Dieser Musterentwurf findet sich in Nachzeichnung in dem Buch von Thea Altaras (S. 18). Altaras läßt jedoch das in Rotenburg in den 1830er Jahren gebaute Ritualbad in ihrer Darstellung unberücksichtigt.


Schema des rituellen Tauchbades nach Rabbiner Levita, Rotenburg/F., 1829/30

A Tauchbad B Vorzimmer für Reinigungsbad C Badeküche

a Zulauf des heißen Wassers
b Loch (mit „Stepsel“) zum Wassereinlassen
c Vertiefung zum Ansaugen durch Entleerungspumpe
d verdeckter Wasserbehälter oder Brunnen
e Wanne(n) für Reinigungsbad
f Kesselanlage
g Faß mit kaltem Wasser
h Brunnen/Pumpe für das Füllen der Kessel

Altaras (S.17, Anm. 22) äußert die Vermutung, dass Vorurteile der kurhessischen Behörden gegen jüdische Ritualbäder der Grund dafür war, dass sie 1829 vom Provinzial-Vorsteheramt wissen wollten, „ob der Gebrauch von den als Tauchbad benutzten ‘Löchern’ aus talmudischen Gründen verbindlich und unabänderlich für das jüdische Volk seien“.
Im Anschluss an die gutachtlichen Stellungnahmen des Rotenburger Rabbiners Levita vom 5.12.1829 und 11.2.1830 wurden dann im September 1830 seitens der „Kurfürstlichen Ober-Bau-Direktion“ die Richtwerte für den Bau von weiteren Tauchbädern im Kurstaat festgelegt. (TA, S.17f, Anm. 22) Von nun an wurden alle Ritualbäder unter polizeiliche und gesundheitliche Aufsicht gestellt.
Nach den amtlichen Verfügungen, die in den Jahren 1830/33 ergingen, machten sich die Rotenburger Juden zügig an die Einrichtung des neuen Bades, das dann 1836 fertiggestellt wurde, wie die Staatsarchivakte Nr. 1422 im Bestand 180 (LA Rotenburg („Die Anlegung von Frauenbädern in den israelitischen Gemeinden des Kreises“) ausweist.

Für die Rotenburger Geschichtsschreibung, insbesondere für das Kapitel „Jüdische Geschichte“ bedeutsam ist die Tatsache, dass das hiesige Ritualbad als Muster für die in der Folgezeit entstehenden Bäder diente, und dies auch über die Landesgrenzen des Kurfürstentums hinaus. (Vgl. Altaras, S.10) So ist das 1991 in Berkach/Werra, Kreis Meiningen, rekonstruierte und restaurierte Tauchbad ganz in der vorgeschriebenen Gestaltungsform der kurhessischen ländlichen Ritualbäder gehalten - es kann daher in seiner inneren Baugestaltung als Anschauungsobjekt auch für die Judenbäder dienen, die im vergangenen Jahrhundert im hiesigen Raum entstanden - insbesondere gilt das für das Rotenburger „Musterbad“ in der Brauhausstraße.


Rituelles Frauenbad in Berkach (südlich Meiningen) nach der Restaurierung 1991 - die Anlage erfolgte nach dem Musterentwurf des Rotenburger Rabbiners Levita

Das Größe des Hauses in der Brauhausstraße (Nr.2) lässt vermuten, dass das zweigeschossige Gebäude in den 1830er Jahren nicht eigens als Ritualbad erbaut wurde, sondern das Bad in das damals schon bestehende Hauses nachträglich eingebaut wurde - die in jener Zeit neuerbauten Ritualbäder waren nämlich in der Regel eingeschossig.
Obwohl sich dies anhand der heutigen Bausubstanz nur schwer nachweisen lässt, kann aufgrund des Mustercharakters des Rotenburger Bades bzw. des für die hiesige Einrichtung verantwortlichen Rabbiners Levita davon ausgegangen werden, dass die Beschreibungen für die erhaltenen Anlagen auch für das Ritualbad der Rotenburger Juden in der Brauhausstraße zutreffen.
Demzufolge bestand das Bad „aus einem in die Erde eingelassenen rechteckigen Tauchbecken von etwa 60-80 cm Breite, einer Länge (den Treppenlauf eingeschlossen) von 80-140 cm und einer Tiefe (von der Sohle bis zum Rand) von 80-160 cm. ... Der Innenraum eines Badehäuschens bestand in der Regel aus drei Räumlichkeiten: der Tauchbeckenanlage, der Feuerungsanlage ... und dem Warteraum bzw. dem Umkleideraum, wo auch die Vorreinigung stattfinden konnte.“ (Altaras, S. 14)
Als Kosten für eine solche Anlage nennt Levita die Summe von 280 bis 320 Talern, wobei eine Einsparung möglich ist, indem die nötigen Einrichtungen in zwei, anstatt in drei Räumen untergebracht werden.
Der Rotenburger Rabbiner legte auch die Reihenfolge und die Benutzungskosten für das rituelle Bad fest und ordnete für die Überwachung des ordnungsgemäßen Ablaufs (z.B. des vollständigen und korrekten Untertauchens der Badenden) die Anwesenheit einer zweiten Frau an.
Die Auswertung der Akten aus verschiedenen kurhessischen Gebieten durch Thea Altaras (S.10) zeigt, dass es in vielen israelitischen Gemeinden große Widerstände gegen die Anlage von Ritualbädern gab.
In vielen Gemeinden wollten die Juden nicht einsehen, warum sie so kostenaufwendige Bäder nach dem Levita-Modell einrichten sollten. So gaben 1842 die Juden in Nentershausen, 1859/60 die Niederaulaer Juden Erklärungen ab, in denen sie für das Weiterbestehen der vorhandenen Ritualbäder in Privathäusern plädierten: Wenn die Frauen den Eigentümern eine Benutzungsgebühr zahlten, sei dies allemal kostengünstiger als die Neuanlage eines Gemeindebades. Außerdem - so die dortigen Juden - schrieben die Religionsgesetze weder ein warmes noch ein öffentliches Ritualbad vor. (Altaras, S.18, Anm. 24)
Thea Altaras (S.11) hält bezüglich der ländlichen israelitischen Gemeinden fest: „Bereits Anfang dieses Jahrhunderts sind vielerorts selbst dann, wenn die Gemeinden noch intakt waren, die Anlagen geschlossen worden. Die steigende Assimilation an die christliche Umgebung, die nun auch auf das Land sich ausweitete, bewirkte ein Abflauen der Frömmigkeit und damit auch eine zunehmende Nichtbeachtung der religiösen Reinigungsgesetze.“
Nicht so in Rotenburg. Die Jahresrechnung der israelitischen Synagogengemeinde weist für die laufende Unterhaltung des Ritualbades in der Brauhausstraße noch für 1937 mit 50 Mark einen Betrag aus, der fast die Höhe der Unterhaltungskosten für die Synagoge (in der Brotgasse) erreicht (60 Mark). Eine Vergleichszahl: Für die Instandhaltung des jüdischen Friedhofs wurden im Etat für 1937 insgesamt 80 Mark veranschlagt.
Nach den Novemberpogromem 1938 blieben Fenster und Haustür des Badehauses unverschlossen, sodass die Kinder aus der Nachbarschaft das für sie geheimnisumwitterte Gebäude inspizieren konnten. Ihren neugierigen Blicken prägte sich vor allem die weiß-blaue Farbwahl ein, in der das gefließte Tauchbecken gestaltet war. Daran können sie sich heute als Zeitzeugen noch eindringlich erinnern.
Es kann davon ausgegangen werden, dass das Bad 1938 in einem guten Zustand war, denn wenige Jahre zuvor hatte die Synagogengemein de Rotenburg erhebliche Mittel für dessen Instandsetzung investiert. 1.500 Reichsmark weist der Rechnungshaushalt 1925 für diesen Zweck aus - bei einem Gesamtetat der israelitischen Gemeinde von 5.082 Mark.
Bei den Renovierungsarbeiten 1925 ist wahrscheinlich auch das Niveau des Tauchbades um ein bis zwei Meter gehoben worden - als das Gebäude nämlich 1939 von Gastwirt Hermann Witzel erworben wurde, war von einem tiefer gelegenen Tauchbad nichts mehr zu sehen. Für 1.600 Reichsmark verkaufte die jüdische Gemeinde 1939 das Haus, nachdem es über anderthalb Jahrhunderte eine wichtige Rolle in ihrem religiös-kulturellen Leben gespielt hatte. Nach den Novemberpogromen 1938 war an eine Benutzung für seinen ursprünglichen Zweck nicht mehr zu denken.


Modell des Ritualbades in der Geschichtswerkstatt der Jakob-Grimm-Schule in Rotenburg