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© Hassia Judaica

Ein Junge aus der Bronx
Jetzt will ich zu rekonstruieren versuchen, was sich 1934 in unserer Familie ereignete, und zwar nicht aus der Perspektive eines neunjährigen Knaben, sondern der eines Erwachsenen.
Die Brüder und Schwestern meines Großvaters hatten sehr hart in ihrem Geschäft gearbeitet und beschlossen in den 1920er Jahren sich in ihr Sommerhaus in New Jersey zurückzuziehen. Sie hatten sich gegenseitig, deshalb waren sie nicht sonderlich an gesellschaftlichen Kontakten mit anderen Leuten interessiert. Sie suchten lediglich ihre Ruhe und ihren Frieden, und die Abgeschiedenheit ihrer Umgebung gefiel ihnen recht gut. Sie lebten mit ihren Erinnerungen, und ihre Vorstellungen vom Leben orientierten sich stärker am ausgehenden 19. Jahrhundert als am 2. Viertel des 20. Jahrhunderts. Als wir bei ihnen lebten, beachteten sie konsequent die jüdischen Speisevorschriften. Sie kauften ihr Fleisch in einer koscheren Metzgerei in Somerville, New Jersey, ungefähr eine halbe Stunde mit dem Auto. Dort war auch eine jüdische Bäckerei, deren Kunden sie waren. In ihrem Gebiet lebten sonst keine jüdischen Familien, und natürlich gab es keine Synagogen oder jüdische Schulen für die Kinder. Meine Eltern waren damals in ihren 40er Jahren und meine Tante und mein Onkel in den Dreißigern. Sie hatten immer in einer jüdischen Gemeinde gelebt, und vollständig getrennt von ihren Glaubensbrüdern und Glaubensschwestern zu sein, war für sie eine neue und unangenehme Erfahrung. Es bekümmerte sie auch, dass es überhaupt keine Möglichkeiten für irgendeine organisierte Form von religiöser Unterweisung für ihre Kinder gab. Außerdem gab es kaum Beschäftigungsmöglichkeiten für meinen Vater und meinen Onkel. 1934 betrieben sie ein wenig Kartoffelanbau auf dem steinigen Boden und halfen mit bei der übrigen Gartenarbeit. Diese Lebensweise war für sie wenig zufrieden stellend. Meine Mutter und meine Tante waren außer sich, weil Tante Rose die Küchenarbeit auf ihre Weise verrichtete, und die Vorstellungen der beiden Generationen stießen oft aufeinander.
In der zweiten Jahreshälfte 1934 wurde entschieden, dass mein Vater und mein Onkel nach New York übersiedeln, sich möblierte Zimmer mieten und versuchen sollten, Arbeit zu finden. Danach sollten sie uns alle nach New York nachkommen lassen. Mein Onkel Siegfried hatte einen Bruder, der in der Bronx in der 156. Straße nahe der Westchester Avenue eine kleine Metzgerei besaß. Deshalb zog es meinen Vater und meinen Onkel in dieses Gebiet. Mein Vater mietete ein Zimmer in der Dawson Street und begann mit der Suche nach einem Arbeitsplatz. Dies geschah während des Höhepunkts der Depression, und ein 45-jähriger Mann, der so gut wie kein Englisch sprach hatte sehr geringe Aussicht, ordentliche Arbeit zu finden, um seine Familie zu versorgen. Für meinen Onkel, der erst 34 war, bestand auch wenig Hoffnung auf richtige Arbeit. Ich weiß nichts Genaues über ihre Jobsuche, aber ich kann mich genau erinnern, dass es doch einige lange Monate dauerte, ehe sie überhaupt etwas fanden.
Der alte Kumpel meines Vaters, Edwin Pfeil, kam als Rettung, indem er ihn im Bereich Versand in seiner kleinen Firma für Bäckereibedarf einstellte, mit einem Lohn von $8 die Woche. Mein Onkel fand einen Job als Geschirrspüler in einer Cafeteria mit einem ähnlich niedrigen Lohn. Es war kein Allheilmittel, aber es war ein Anfang, und ich glaube, unsere Leute freuten sich sehr über die Aussicht, in New York zu leben und ihr Leben selbst zu gestalten.