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Projekt Samuel Spiro
"Unter den freigesinnten Männern der
Gemeinde herrschte starke Mißstimmung
gegen den Rabbiner und seinen Kreis, aber es
ist zu Lebzeiten des Rabbiners niemals gelungen, eine organisierte Opposition zu schaffen. Wer es wagte, den Schabbat zu entweihen durch Geschäftsöffnung oder
andere Arbeit, wurde von der Kanzel herab
an den Pranger gestellt. Die zionistische Bewegung verfolgte er mit besonderem Haß. Eine Misrachi-Ortsgruppe, die sich in Fulda gebildet hatte, wurde auf des Rabbiners
Geheiß wieder aufgelöst. Die religiöse
Erziehung der Jugend sprach allen pädagogischen Grundsätzen Hohn. Die Schüler der höheren Schulen wurden zum allmorgendlichen Synagogenbesuch
gezwungen. Wer zu spät oder gar nicht
er­schien, wurde mit Strafpunkten belegt. Die Kontrolle über den Synagogenbesuch wurde
von den von dem Rabbiner für würdig befundenen Schülern ausgeübt, die dadurch
zu einem widerlichen Denunziantentum angehalten wurden. Ich selbst war in der Synagoge Zeuge einer Szene, die wohl einzig
in ihrer Art ist: Der Rabbiner eilte, mit Tallit
und Tefillin angetan, einem sechzehnjährigen Obersekundaner, der die Synagoge vor Beendigung des Gottesdienstes verlassen
hatte, bis in den Synagogenhof nach, ohrfeigte ihn und zwang ihn, in die Synagoge zurückzukehren, und niemand wagte es, sich gegen solche Handlungen aufzulehnen. Der
Lohn blieb allerdings nicht aus. Sehr viele der unter diesem Regime erzogenen Schüler wandten sich, nachdem sie der rabbinatlichen Diktatur entronnen waren, endgültig von der Orthodoxie ab. Gerechterweise muß
zugegeben werden, daß dieser Rabbiner immerhin eine Persönlichkeit war, die die Forderungen, die er an andere stellte, auch
von sich selbst verlangte.
Besonders gefürchtet war der Rabbiner bei
den Lehrern seines Bezirkes. Jeden
Donnerstag versammelten sich die Lehrer
zum Zwecke des Talmudstudiums in Hersfeld oder in Fulda, und der Rabbiner „lernte vor". Wehe den Lehrern, die zu diesen Übungen
nicht erschienen. Sie galten als religiös unzuverlässig. Was das bei diesem Rabbiner bedeutete, kann der nicht ermessen, der ihn nicht kannte. Allerdings kamen die Lehrer
nicht ungern zu diesen Lernstunden, denn es
bot sich dann eine gute Gelegenheit, in der
Stadt Einkäufe zu machen. Besonderen Grund
zu Furcht vor dem Gestrengen hatten die
Lehrer, die gleichzeitig Schochtim waren, so
wie dieses bei den Dorflehrern üblich war.
Sie wurden von Zeit zu Zeit durch den Rabbiner auf ihre Eignung geprüft, mußten ein „Messer stellen", und wehe dem Armen, in dessen Messer der Rabbiner eine Lücke (Pegima)
fand, die ihm, dem Schochet, entgangen war. Dann machte der Rabbiner selbst feine Lücken
in das Messer, die der Schochet finden mußte. Ich sehe noch die schreckerfüllten Gesichter dieser Lehrer und Schochtim vor mir, die nach unbefriedigendem Ergebnis sich rat- und hilfesuchend an meinen Vater wandten. Für
die Lehrer in den kleinen Dorfgemeinden
bildete die Schechita eine wichtige Erwerbsquelle, die versiegte, wenn der „Fulder Raw" die Lehrer als Schochtim „passelte" (= als Schächter religiös nicht tragbar erkärte).
Es gehörte zu den besonderen
Gepflogenheiten dieses Rabbiners, nach
Lücken und Mängeln auf dem religiösen Gebiet zu suchen. Einmal hatte er festgestellt, daß ein Mohel, der seit über 20 Jahren seines Amtes waltete, Fehler bei der Ausübung der Beschneidung gemacht hatte. Des Rabbiners bemächtigte sich eine große Erregung, und er gab Befehl, daß sämtliche Kinder und jungen Männer, die durch eben diesen Mohel ihrer Vorhaut beraubt worden waren, sich einem streng orthodoxen Arzt in Fulda zur Untersuchung ihrer Kaschrus vorzustellen hatten. Es hob eine große Aktion an, um alle diese Kinder und Jugendlichen ausfindig zu machen, und tatsächlich fanden sich einige Kinder, zum Teil schon im Schulalter, bei denen Fehler festgestellt werden konnten. Alle diese Kinder wurden auf Befehl des Rabbiner-Diktators ein zweites Mal beschnitten. Ich
selbst gehörte zu der Klientel dieses Mohel,
war damals, als das Unglück entdeckt wurde, schon Student, und als ich zu den Universitätsferien nach Hause kam, eröffnete mir mein Vater, daß ich mich zum Zwecke meiner Beschneidungskaschrus von dem oben erwähnten orthodoxen Arzt untersuchen lassen müsse. Aber damals widerstand ich sogar der Forderung meines strengen Vaters mit der Begründung, daß erstens eine nochmalige Beschneidung für mich unter keinen
Umständen in Frage komme und zweitens ich mit dem Ergebnis der Beschneidung durchaus zufrieden sei. Es sprach sich in Fulda bald herum, daß der Sohn des Lehrers Spiro die Untersuchung verweigert hätte, und es gab Anlaß zu Empörung und zu Heiterkeit, je nach der religiösen Einstellung der Gemeindemitglieder, ich aber ging stolz erhobenen Hauptes an den mich scheel anblickenden Orthodoxen vorbei.[...]


  
Samuel Spiro in seinen "Jugenderinnerungen aus hessischen Judengemeinden":
  
(rechts)
Provinzialrabbiner Dr. Michael Cahn (1877-1918) war über vier Jahrzehnte Garant für einen streng orthodoxen Ritus in seinem Amtsbereich.


(unten)
Die 1858/59 im maurischen Stil erbaute Synagoge wurde wegen des starken Anstiegs der jüdischen Bevökerung 1927 umgebaut und erweitert.