"Unter den freigesinnten Männern der
Gemeinde herrschte starke Mißstimmung
gegen den Rabbiner und seinen Kreis, aber es
ist zu Lebzeiten des Rabbiners niemals
gelungen, eine organisierte Opposition zu
schaffen. Wer es wagte, den Schabbat zu
entweihen durch Geschäftsöffnung oder
andere Arbeit, wurde von der Kanzel herab
an den Pranger gestellt. Die zionistische
Bewegung verfolgte er mit besonderem Haß.
Eine Misrachi-Ortsgruppe, die sich in Fulda
gebildet hatte, wurde auf des Rabbiners
Geheiß wieder aufgelöst. Die religiöse
Erziehung der Jugend sprach allen
pädagogischen Grundsätzen Hohn. Die Schüler
der höheren Schulen wurden zum
allmorgendlichen Synagogenbesuch
gezwungen. Wer zu spät oder gar nicht
erschien, wurde mit Strafpunkten belegt. Die
Kontrolle über den Synagogenbesuch wurde
von den von dem Rabbiner für würdig
befundenen Schülern ausgeübt, die dadurch
zu einem widerlichen Denunziantentum
angehalten wurden. Ich selbst war in der
Synagoge Zeuge einer Szene, die wohl einzig
in ihrer Art ist: Der Rabbiner eilte, mit Tallit
und Tefillin angetan, einem sechzehnjährigen
Obersekundaner, der die Synagoge vor
Beendigung des Gottesdienstes verlassen
hatte, bis in den Synagogenhof nach, ohrfeigte
ihn und zwang ihn, in die Synagoge
zurückzukehren, und niemand wagte es, sich
gegen solche Handlungen aufzulehnen. Der
Lohn blieb allerdings nicht aus. Sehr viele der
unter diesem Regime erzogenen Schüler
wandten sich, nachdem sie der rabbinatlichen
Diktatur entronnen waren, endgültig von der
Orthodoxie ab. Gerechterweise muß
zugegeben werden, daß dieser Rabbiner
immerhin eine Persönlichkeit war, die die
Forderungen, die er an andere stellte, auch
von sich selbst verlangte.
Besonders gefürchtet war der Rabbiner bei
den Lehrern seines Bezirkes. Jeden
Donnerstag versammelten sich die Lehrer
zum Zwecke des Talmudstudiums in Hersfeld
oder in Fulda, und der Rabbiner „lernte vor".
Wehe den Lehrern, die zu diesen Übungen
nicht erschienen. Sie galten als religiös
unzuverlässig. Was das bei diesem Rabbiner
bedeutete, kann der nicht ermessen, der ihn
nicht kannte. Allerdings kamen die Lehrer
nicht ungern zu diesen Lernstunden, denn es
bot sich dann eine gute Gelegenheit, in der
Stadt Einkäufe zu machen. Besonderen Grund
zu Furcht vor dem Gestrengen hatten die
Lehrer, die gleichzeitig Schochtim waren, so
wie dieses bei den Dorflehrern üblich war.
Sie wurden von Zeit zu Zeit durch den Rabbiner
auf ihre Eignung geprüft, mußten ein „Messer
stellen", und wehe dem Armen, in dessen
Messer der Rabbiner eine Lücke (Pegima)
fand, die ihm, dem Schochet, entgangen war.
Dann machte der Rabbiner selbst feine Lücken
in das Messer, die der Schochet finden mußte.
Ich sehe noch die schreckerfüllten Gesichter
dieser Lehrer und Schochtim vor mir, die nach
unbefriedigendem Ergebnis sich rat- und
hilfesuchend an meinen Vater wandten. Für
die Lehrer in den kleinen Dorfgemeinden
bildete die Schechita eine wichtige
Erwerbsquelle, die versiegte, wenn der „Fulder
Raw" die Lehrer als Schochtim „passelte" (= als
Schächter religiös nicht tragbar erkärte).
Es gehörte zu den besonderen
Gepflogenheiten dieses Rabbiners, nach
Lücken und Mängeln auf dem religiösen Gebiet
zu suchen. Einmal hatte er festgestellt, daß ein
Mohel, der seit über 20 Jahren seines Amtes
waltete, Fehler bei der Ausübung der
Beschneidung gemacht hatte. Des Rabbiners
bemächtigte sich eine große Erregung, und er
gab Befehl, daß sämtliche Kinder und jungen
Männer, die durch eben diesen Mohel ihrer
Vorhaut beraubt worden waren, sich einem
streng orthodoxen Arzt in Fulda zur
Untersuchung ihrer Kaschrus vorzustellen
hatten. Es hob eine große Aktion an, um alle
diese Kinder und Jugendlichen ausfindig zu
machen, und tatsächlich fanden sich einige
Kinder, zum Teil schon im Schulalter, bei denen
Fehler festgestellt werden konnten. Alle diese
Kinder wurden auf Befehl des Rabbiner-Diktators ein zweites Mal beschnitten. Ich
selbst gehörte zu der Klientel dieses Mohel,
war damals, als das Unglück entdeckt wurde,
schon Student, und als ich zu den
Universitätsferien nach Hause kam, eröffnete
mir mein Vater, daß ich mich zum Zwecke
meiner Beschneidungskaschrus von dem oben
erwähnten orthodoxen Arzt untersuchen lassen
müsse. Aber damals widerstand ich sogar der
Forderung meines strengen Vaters mit der
Begründung, daß erstens eine nochmalige
Beschneidung für mich unter keinen
Umständen in Frage komme und zweitens ich
mit dem Ergebnis der Beschneidung durchaus
zufrieden sei. Es sprach sich in Fulda bald
herum, daß der Sohn des Lehrers Spiro die
Untersuchung verweigert hätte, und es gab
Anlaß zu Empörung und zu Heiterkeit, je nach
der religiösen Einstellung der
Gemeindemitglieder, ich aber ging stolz
erhobenen Hauptes an den mich scheel
anblickenden Orthodoxen vorbei.[...]