"Eines Tages stellte mich einer der
Breuerschen Söhne darüber zur Rede,
daß ich, wie man dem „Rebbe" berichtet
habe, Theater und Opern besuche. Er fügte
hinzu: „Dies wird nicht gern gesehen." Ich
konnte die Tatsache nicht leugnen, aber
auch nicht versprechen, daß ich mir diesen
Genuß versagen werde. Meine Situation in
dieser Umgebung wurde immer unhaltbarer
und meine Abneigung gegen diese Form der
Orthodoxie immer stärker. An wen hätte ich
mich wenden sollen, um mich aus dieser
Lage zu befreien? Höchstens an meine
Mutter, die mich verstanden hätte, aber
deren Einfluß in solchen Fragen nur gering
war. Schließlich beschloß ich, auf eigene
Faust zu handeln. Ich faßte mir ein Herz
und ging zum „Rebbe", um ihm mitzuteilen,
daß ich mich entschlossen hätte, die
Jeschiwe zu verlassen, nachdem ich
eingesehen hätte, daß ich für den
Jeschiwebesuch nicht geeignet sei. Die
Beschimpfung des Rabbi, der mich als faul
und lernunwillig bezeichnete, hörte ich mir
in aller Gemütsruhe an, wußte ich doch,
daß dies mein letztes Zusammentreffen mit
ihm war, und daß meine Laufbahn als
Jeschiwebachur noch am gleichen Tag
beendet sein werde. Dieser Entschluß
bildete den Beginn meiner inneren
Unabhängigkeit von meinem Vater, der
bis dahin ohne Rücksicht auf meine
Wünsche und Neigungen über die
Gestaltung meines Lebens entschieden
hatte. Es bedeutete auch das Ende meiner
Beschäftigung mit dem Talmud und
sonstiger hebräischer Literatur. Hatte ich
schon vorher durch den Zwang, mit dem
man mich zur Beschäftigung mit den
heiligen Büchern angehalten hatte, mich
mit einem gewissen Widerwillen dem
Studium dieser Bücher gewidmet, so war
jetzt das Maß voll, und weder mein Vater
noch andere vermochten es, diesen
Widerwillen zu überwinden.
30 Jahre hindurch wirkte dieser in der Jugend
erlittene Schock nach, und erst in Erez
Israel ist es mir gelungen, den Widerwillen
gegen das Hebräische zu besiegen und
meine in früher Kindheit empfundene
Liebe zum Hebräischen wieder zum
Erwachen zu bringen."
Salomon Breuer (oben) war in
den Jahren 1890 -1926 Rabbiner
der streng orthodoxen Frankfurter
"Austrittsgemeinde", deren
"Jeschiwa" Salomon Spiro auf
Wunsch seines Vaters ab 1904
besuchte.
(unten) Virtuelle Rekonstruktion
der Synagoge der neoorthodoxen
Frankfurter "Austrittsgemeinde"
an der Friedberger Anlage
Samuel Spiro in
seinen
"Jugenderinnerungen
aus hessischen
Judengemeinden":