"Im Frühjahr 1904 beendigte ich das
Gymnasium in Fulda, und die Frage der
Berufswahl stand zur Erörterung. Mein Vater
hatte trotz seiner sehr weltlichen Einstellung
die Hoffnung noch nicht aufgegeben, aus mir
einen großen Raw machen zu können,
während meine Mutter, die mich besser
kannte, den Standpunkt vertrat, daß ich
mich nicht zum Rabbiner eigne. Es wurde eine
Zwischenentscheidung getroffen, dahingehend,
daß ich zunächst einmal die Breuersche
Jeschiwe in Frankfurt am Main besuchen
solle, und daß erst während meines dortigen
Studiums die Entscheidung über meine
Berufswahl getroffen werden solle. Es war,
wie sich bald herausstellte, ein unglücklicher
Entschluß.
Schweren Herzens trat ich im April 1904 die
Reise nach Frankfurt an, um als „Bocher" in
die Jeschiwe einzutreten. Ich meldete mich
bei dem allmächtigen Rabbiner der
Austrittsgemeinde und Leiter der Jeschiwe,
Dr. Breuer, einem Schwiegersohne Samson
Raphael Hirschs, als jüngster Jeschiwebachur.
Die Audienz bei Seiner Hoheit fand im Stehen
statt und war wenig ermutigend für mich. Mir
wurde sofort klar, daß meines Bleibens in
dieser Welt der Eiferer nicht lange sein werde.
Die Jeschiwebachurim waren fast sämtlich
mittellose junge Männer aus Ungarn und
Galizien. Nur zwei deutsche Juden waren unter
den Schülern, außer mir ein Sohn des durch
seine Frömmigkeit und Wohltätigkeit in der
Orthodoxie bekannten und hochverehrten
Bankiers Samuel Strauß in Karlsruhe. Da ich
in meinen Kenntnissen weit hinter den
übrigen Bachurim zurückstand, von denen ein
Teil schon wirklich Lamdanim waren, erhielt
ich einen „Repetierer", einen sogenannten
Chaserbocher", der sich mit großem Eifer
bemühte, meine großen Wissenslücken
auszufüllen. [...]"
Samuel Spiro in
seinen
"Jugenderinnerungen
aus hessischen
Judengemeinden":
Salomon Breuer (oben) war in den
Jahren 1890 -1926 Rabbiner der streng
orthodoxen Frankfurter
"Austriitsgemeinde", deren "Jeschiwa"
Salomon Spiro auf Wunsch seines
Vaters ab 1904 besuchte.
Die Jeschiwa (Mitte und unten
Darstellungen in alten Druckwerken)
ist die jüdische religiöse Hochschule.
Jeschiwa bedeutet Sitz/ Sitzung und
bezeichnet den Katheder, von dem aus
der Lehrende seine Vorträge hält und die
Diskussion leitet. Die von Raphael
Samson Hirsch gegründete Frankfurter
Hochschule vertrat theologisch die sog.
Neoorthdoxie, die sich der jüdischen
Reformbewegung entgegenstellte und als
"Israelische Religionsgesellschaft" von
der jüdischen Einheitsgemeinde
abspaltete.