"Es soll nicht geleugnet werden, daß in den
Logen durch Vorträge das Interesse für
geistige Fragen geweckt wurde, aber für die
Masse der Mitglieder wurden in den kleinen
Städten auch diese Vortragsabende in erster
Linie als gesellschaftliche Ereignisse gewertet.
Selbst bei vielen der Austrittsorthodoxen war
die Sucht, auch dazuzugehören, größer als der
sonst so stark ausgeprägte Trieb zur
Absonderung, und sie traten gegen den Willen
des jungen Rabbiners, des geistig wenig
hervorragenden Sohnes des „alten Raw", in die
Loge ein.
Eine Misrachi Ortsgruppe konnte in Fulda nicht
mehr ins Leben gerufen werden; so weit
reichte der Einfluß des jungen Rabbiners
immerhin noch. Dagegen konnte schon der
alte Rabbiner die Gründung einer allgemeinen
zionistischen Ortsgruppe, die sich in der
Hauptsache aus Nichtorthodoxen
zusammensetzte, nicht mehr verhindern,
wenn auch diese Ortsgruppe einen
Dornröschenschlaf schlief. Allmählich
gewannen in Fulda auch die liberalen Kräfte
stärkeren Einfluß, denn ihre Zahl war im Lauf
der Jahre stark gewachsen. Der junge
Rabbiner, der sich zunächst bemühte, in allen
Gemeindeangelegenheiten in die Fußstapfen
seines Vaters zu treten, war doch nicht die
Persönlichkeit, um sich auf die Dauer dem
gewandelten Zeitgeist zu widersetzen, und so
mußte er schließlich einwilligen, daß ein
Vertreter der Liberalen in den
Gemeindevorstand eintrat. Der Rabbiner
brauchte seine Einwilligung nicht zu bereuen,
dieser Oppositionelle wurde allmählich völlig
„regierungstreu" und wachte scharf über die
Innehaltung der streng orthodoxen Grundlinie
der Gemeinde. [...]"
Samuel Spiro in
seinen
"Jugenderinnerungen
aus hessischen
Judengemeinden":
Dr. Leopold/ Jehuda Cahn (links)
amtierte bis 1938 als Nachfolger
seines Vaters als Fuldaer Rabbiner.
Im November 1938 in das KZ
Buchenwald verschleppt, gelang ihm
über England die Flucht nach
Palästina. Er vestarb dort 1958.
(unten)
"Jedem das Seine":
Mit dieser sadistischen Inschrift
wurden die nach den
Novemberpogromen 1938 ins
Konzentrationslager Buchenwald
bei Weimar deportieten Juden am
Lagertor begrüßt.