"Die gesellschaftliche Schichtung der
jüdischen Einwohner von Fulda war gänzlich
verschieden von der in dem benachbarten
Hersfeld. In Fulda gab es schon eine
sogenannte Oberschicht von Akademikern,
gebildeten Kaufleuten, einigen Industriellen,
Bankiers und einigen Beamten. Dann war da
die Schicht der Alteingesessenen, die sich
kraft ihrer Seßhaftigkeit besser dünkten als
ihre aus den Dörfern zugezogenen Brüder,
die die dritte Schicht bildeten und für die es
fast unmöglich war, in die sogenannte gute
Gesellschaft aufgenommen zu werden.
Nach unserer Übersiedlung nach Fulda
trat mein Vater in den jüdischen
Geselligkeitsverein „Casino" ein. Dort
aufgenommen zu werden, galt damals als
eine Ehre. Die Abstimmung war geheim,
und ich habe manche Tragödie erlebt bei
Menschen, die bei der Abstimmung
durchfielen, und für die Ablehnung einer
gesellschaftlichen Ächtung gleichkam. Dabei
waren die Abgelehnten oft ehrenhafter als
die Ablehner. Später sank das Ansehen des
„Casino" beträchtlich, als in Fulda eine Bne
Briss Loge gegründet wurde, in die
aufgenommen zu werden der höchste
Ehrgeiz der Gemeindeangehörigen war.
Wenn ich aus Berlin für einige Tage nach
Fulda kam, war die erste Frage meiner der
Loge angehörenden Bekannten: „Sind Sie
Mitglied der Loge?" Und als ich verneinte,
fühlte ich, wie die Achtung vor mir sank. So
segensreich in großen Städten die Tätigkeit
der Loge war, so sehr führte die
Zugehörigkeit zu ihr in kleinen Städten zu
einem gesellschaftlichen Dünkel, der sicher
nicht im Sinne der Begründer der Loge war.
Gewiß gab es auch in den kleinen Städten
geistig hochstehende, freigesinnte Männer,
die über das aufgeblasene Logengehabe
überlegen lächelten, aber das Gros der
Gemeindemitglieder, das nicht zur Loge
gehörte, blickte mit Neid auf die
„Auserwählten", die der Mitgliedschaft zur
Loge für würdig erachtet wurden, während
die „Auserwählten" sich im Glänze ihrer
Auserwähltheit sonnten und blähten.
Samuel Spiro in seinen
"Jugenderinnerungen
aus hessischen
Judengemeinden":
Die frühere "Judengasse" in Fulda heißt
jetzt Am Stockhaus (rechts).
(unten)
Bei einer Stadtführung zu markanten
Punkten ehemaligen jüdischen Lebens
in Fulda führte Lea Weiland, die
Vorsitzende der neuen jüdischen
Gemeinde, die Teilnehmer im März 2004
auch in die Bahnhofstraße, die im
Volksmund "Nußbaumallee" hieß. Hier
gab es zwei renommierte Textil- und
Bekleidungsgeschäfte, die der Straße
ihren Stempel aufdrückten.