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Projekt Samuel Spiro
"Die gesellschaftliche Schichtung der jüdischen Einwohner von Fulda war gänzlich verschieden von der in dem benachbarten Hersfeld. In Fulda gab es schon eine sogenannte Oberschicht von Akademikern, gebildeten Kaufleuten, einigen Industriellen, Bankiers und einigen Beamten. Dann war da die Schicht der Alteingesessenen, die sich kraft ihrer Seßhaftigkeit besser dünkten als ihre aus den Dörfern zugezogenen Brüder, die die dritte Schicht bildeten und für die es fast unmöglich war, in die sogenannte gute Gesellschaft aufgenommen zu werden.
Nach unserer Übersiedlung nach Fulda
trat mein Vater in den jüdischen Geselligkeitsverein „Casino" ein. Dort aufgenommen zu werden, galt damals als eine Ehre. Die Abstimmung war geheim,
und ich habe manche Tragödie erlebt bei Menschen, die bei der Abstimmung durchfielen, und für die Ablehnung einer gesellschaftlichen Ächtung gleichkam. Dabei waren die Abgelehnten oft ehrenhafter als die Ablehner. Später sank das Ansehen des „Casino" beträchtlich, als in Fulda eine Bne Briss Loge gegründet wurde, in die aufgenommen zu werden der höchste
Ehrgeiz der Gemeindeangehörigen war. Wenn ich aus Berlin für einige Tage nach Fulda kam, war die erste Frage meiner der Loge angehörenden Bekannten: „Sind Sie Mitglied der Loge?" Und als ich verneinte, fühlte ich, wie die Achtung vor mir sank. So segensreich in großen Städten die Tätigkeit der Loge war, so sehr führte die Zugehörigkeit zu ihr in kleinen Städten zu einem gesellschaftlichen Dünkel, der sicher nicht im Sinne der Begründer der Loge war. Gewiß gab es auch in den kleinen Städten geistig hochstehende, freigesinnte Männer, die über das aufgeblasene Logengehabe überlegen lächelten, aber das Gros der Gemeindemitglieder, das nicht zur Loge gehörte, blickte mit Neid auf die „Auserwählten", die der Mitgliedschaft zur Loge für würdig erachtet wurden, während die „Auserwählten" sich im Glänze ihrer Auserwähltheit sonnten und blähten.


  
Samuel Spiro in seinen "Jugenderinnerungen aus hessischen Judengemeinden":
  
Die frühere  "Judengasse" in Fulda heißt jetzt  Am Stockhaus (rechts).


(unten)
Bei einer Stadtführung zu markanten Punkten ehemaligen jüdischen Lebens in Fulda führte Lea Weiland, die Vorsitzende der neuen jüdischen Gemeinde, die Teilnehmer im März 2004 auch in die Bahnhofstraße, die im Volksmund  "Nußbaumallee" hieß. Hier gab es zwei renommierte Textil- und Bekleidungsgeschäfte, die der Straße ihren Stempel aufdrückten.