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 Im Verlauf des Jahres 1916, also mitten im Ersten Weltkrieg, wandte sich in Deutschland die Stimmung schlagartig
gegen die Juden, entstand eine neue Welle von Antisemitismus. Die Enttäuschung über den Umschwung der
militärischen Lage und die mit dem Krieg verbundenen wirtschaftlichen Schwierigkeiten schufen in weiten Kreisen eine
Umbruchsituation mit dem Gefühl der Unsicherheit, in der man bereitwillig auf die Juden als Sündenböcke zurückgriff
und die durch vielerlei Nöte des Kriegsalltags entstandene Missstimmung auf die jüdische Minderheit lenkte.Auf die
Antisemiten hatten weder Kriegsaufrufe jüdischer Organisationen noch gar der Fronteinsatz Zehntausender jüdischer
Soldaten Eindruck gemacht. Im Gegenteil: Angesichts des ungünstigen Kriegsverlaufs verstärkt sich der Antisemitismus im Feld und in der Heimat. Immer lauter wird der Verdacht vorgebracht, die Juden erfüllten ihre Pflicht nicht, bis im Herbst 1916 das Kriegsministerium die sogenannte „Judenzählung“ anordnet, um dem Vorwurf auf den Grund zu gehen, Juden hätten sich vom Frontdienst gedrückt. Antisemitischen Phantastereien wird durch die Zählung ein quasi-amtlicher Stempel aufgedrückt; die Wirkung dieser Maßnahme auf die deutschen Juden, die mit solcher Begeisterung ins Feld gezogen sind, ist von erschütternder Wucht.
Die als konfessionelle Statistik getarnte Erfassung aller wehrpflichtigen Juden wurde von der jüdischen Bevölkerung
insgesamt und insbesondere von den Frontkämpfern als tiefe Demütigung empfunden. Das Ergebnis wurde nicht veröffentlicht, als sich herausstellte, dass - trotz der absichtlichen Umsetzung von der Front in die Etappe - die relative Anzahl der jüdischen Frontsoldaten nicht geringer war als die der nichtjüdischen.1922 erwies eine systematische Untersuchung des Materials die „größte statistische Ungeheuerlichkeit, deren sich eine Behörde jemals schuldig gemacht hat“.(Werner Jochmann, in: Deutsches Judentum in Krieg und Revolution 1916-1923, S. 426)
Obwohl die „Judenzählung“ unter den preußischen Soldaten, durchgeführt mit Verfügung der preußischen
Heeresleitung vom 11. Oktober 1916, zu Tage brachte, dass der Anteil jüdischer Kriegsteilnehmer und jüdischer
Gefallener sogar leicht überproportional war, mussten sich die Juden gegen die Diffamierung als Drückeberger und
Kriegsprofiteure wehren. Durch besonderen Einsatz hatten viele Juden geglaubt, ihre nationale Zuverlässigkeit beweisen und damit endlich ihre vollkommene Gleichstellung durchsetzen zu können.  Trotz des Drängens der jüdischen Organisationen weigerte sich das Kriegsministerium, die Ergebnisse der Erhebungen zu veröffentlichen. Allerdings gestattete es nach 1918 einem der rabiatesten Antisemiten, Alfred Roth, Einblick in das gesamte statistische Material, das dieser anschließend zu zwei Hetz-Broschüren verarbeitete. Aber unstrittig ist, dass die deutschen Juden, wie in einer seriösen Studie nachgewiesen wurde, „restlos den auf sie entfallenden Anteil an Kriegsteilnehmern gestellt“ und an den Opfern wie auch an kriegerischen Leistungen „in einer dem Durchschnitt mindestens entsprechenden Weise teilgenommen“ haben. Die Zahl jüdischer Gefallener in einigen Orten der Landkreise Hersfeld und Rotenburg liegt sogar eindeutig über dem jeweiligen jüdischen Bevölkerungsanteil.
In den Augen der Judengegner lieferten das Kriegsende, der Waffenstillstand und die revolutionären Erschütterungen Stichworte, um die Juden der Unzuverlässigkeit oder des Verrats zu bezichtigen. Zwischen 1919 und 1923 erhielt der Antisemitismus im Reich starken Auftrieb. Die Juden wurden für den Ausgang des Krieges und das Aufkommen revolutionärer Bewegungen verantwortlich gemacht. Gegen die sich verstärkende antisemitische Agitation formierte sich innerhalb der Judenschaft ein Widerstand, der maßgeblich vom Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens (CV) und von den ehemaligen jüdischen Soldaten, die sich im Reichsbund jüdischer Frontsoldaten (RjF) organisierten, getragen wurde. 1919 gegründet, bestand die Hauptaufgabe des RjF darin, die jüdischen Kriegsteilnehmer vor antisemitischer Propaganda zu schützen und ihren tatsächlichen Beitrag am militärischen Kampf, ihre Entbehrungen und Opfer zu schildern.
In der vergifteten innenpolitischen Atmosphäre der Weimarer Republik gehörten neben den Sozialdemokraten auch die Juden zu jenen, die man zu Wehrkraftzersetzern und „Novemberverbrechern“ stempelte; angeblich seien sie dem
kämpfenden Heer 1918 in den Rücken gefallen und hätten dadurch die deutsche Niederlage verschuldet, wie dies die
„Dolchstoßlegende" gegen besseres Wissen behauptete.
Gegen den Vorwurf mangelnder Kriegsbeteiligung setzte sich der Reichsbund jüdischer Frontsoldaten mit einem Gedenkbuch zur Wehr, in dem alle jüdischen Gefallenen des Ersten Weltkriegs aufgeführt waren. Das vom RjF im Oktober 1932 in Buchform vorgelegte Verzeichnis der Gefallenen (10.623 der rund 12.000 jüdischen Kriegsopfer konnten ermittelt werden) widerlegt eindrucksvoll das Klischee von der angeblichen jüdischen Drückebergerei.