Im Oktober 1918 war der Krieg für Arthur Hahn vorbei. Nachdem er vom
flandrischen Kriegsschauplatz ins Elsass nach Lothringen und in die
Champagne beordert worden war, geriet er am 25. Oktober bei Ambly in
französische Kriegsgefangenschaft, in der er mit einem knappen Dutzend
Lagern Bekanntschaft machte: St. Clément, St. Souplet, St. Hilaire,
Alibaudières, Orléans, Le Mans, Chartres, Reims, Fismes, Lille, Chalons sur
Marne. Die Kriegsgefangenschaft war mit einer großen Bandbreite von
Einsätzen verbunden: in Mühlenbetrieben und bei der Eisenbahn als
Handarbeiter, in den Lagern selbst für Botengänge ("Ordonanzen") und als
Dolmetscher. Es bedurfte einer gewissen Ironie des Schicksals, dass ihm am
13./14. Januar 1920 die Flucht aus dem Lager Chalons sur Marne gelang,
denn auf dem Transport zu einem Strafgefangenenlager wegen eines zuvor
erfolgten Fluchtversuchs gelang es ihm zu entkommen. Unentdeckt schaffte
er den Weg über Belgien und Holland in den deutschen Grenzort Elten bei
Emmerich am Rhein, wo er eine Woche später, am 21. Januar 1920, aus dem
Militärdienst entlassen wurde.
Was über Arthur Hahns Rolle als Kriegsgefangener und die Umstände seiner
Flucht in Familienerzählungen kolportiert wurde, gibt seine Enkeltochter
Hannelore Hahn in ihren Lebenserinnerungen wieder (On the Way to Feed the
Swans, 1982):
"Es wurde erzählt, dass er als deutscher Kriegsgefangener, als Frau
verkleidet, mit einem Sprung aus dem fahrenden Zug geflohen war. Ich fand
es immer recht komisch, wenn erzählt wurde, dass er damals einem
Mädchen sehr ähnelte, da er keinen Bart hatte und ohnmächtig wurde, wenn
er Blut sah. Die Verleihung des Eisernen Kreuzes war alles, was i c h jemals
aus diesem Lebensabschnitt von ihm gehört habe und dass er geflüchtet
war, indem er aus einem fahrenden Zug in Frauenkleidern sprang. Er
erwähnte weder einen Kameraden, noch gab er jemals irgendein Detail preis
über das, was sich in diesen Jahren ereignet hatte. Als ich in die Welt kam,
war dieses Kapitel seines Lebens abgeschlossen. Die fehlenden Teile über die
Flucht aber hörten sich eigentlich so an:
Mein Vater ist, nach dem Bericht einiger seiner Freunde, zweimal geflohen.
Das erste Mal wurde er wieder eingefangen und in ein Kriegsgefangenenlager
gebracht, wo die Deutschen zur Unterhaltung der französischen Offiziere
Theaterstücke aufführten, sozusagen Molière im Schützengraben. Meinem
Vater, einem der jüngsten Gefangenen und bartlos, wurden die
weiblichen Rollen gegeben. An und für sich wäre das nicht so schlecht
gewesen, allerdings unter den Bedingungen des Krieges erhielt er abseits der
Bühne unzweideutige „Angebote“ von Deutschen und Franzosen. Als er das
später meiner Mutter enthüllte, brachte er seinen tiefen persönlichen
Abscheu darüber zum Ausdruck.
Auf der Bühne, als die unschuldige „Femme“, zog er die Aufmerksamkeit der
Geliebten eines französischen Colonels auf sich. Sie war selber eine
Schauspielerin bei der Comedie Française und brachte ihn unter die Fittiche
des älteren Colonels, der ihn zu seinem Leibburschen/ Offiziersburschen
machte. Obwohl der Krieg im Jahr 1918 endete, diente mein Vater weiter als
Leibbursche/ Offiziersbursche. Die Reparationsverhandlungen zwischen
Deutschland und Frankreich gingen nur schleppend voran und der Austausch
der Kriegsgefangenen wurde eine langwierige/ lang ausgedehnte
Angelegenheit. Außerdem wurde mein Vater der Geliebte der jungen Freundin
des Colonels. Sie rief ihn liebevoll „le petit Artur“, und er trug ihre Kleider,
als er aus dem fahrenden Zug sprang. C’est la guerre."